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Veröffentlicht 21. Dezember 2023

Gänseverhalten – was heisst da «dumme Gans»?

  • Text und Bild: Ernst Hofmann, Unterkulm
  • Urheber-/Nutzungsrechte: Link öffnen

Unsere Hausgänse stammen von den wildlebenden Graugänsen ab, die vor allem in Mitteleuropa heimisch sind. Sie unterscheiden sich von Enten durch ihre Grösse und längerem Hals. Zudem sind im Unterschied zu den Entenarten die beiden Geschlechter praktisch gleich aussehend.

Durch Züchtungen (Domestikation) sind mehr als ein Dutzend Gänserassen entstanden, die je nach Zuchtziel als Lege- oder Mastrassen hervorgegangen sind. Die wildlebenden Graugänse haben wie die übrigen Wasservogelarten ritualisierte Balz- und Paarungsweisen entwickelt. Unter ihnen kommt dem sogenannten Triumphgeschrei die grösste Wirkung zu. Während der Werbung unternimmt das Männchen (Ganter) einen echten oder scheinbaren Angriff auch auf stärkere Gegner und stösst beim Zurückkehren zur umworbenen Gans unter Hals- und Kopfhochrecken ein lautes, trompetenartiges Geschrei aus. Stimmt die weibliche Gans in dieses Triumphgeschrei ein, so ist die Ehe geschlossen. Die Partnerschaften halten meist lebenslang, ja sogar nach dem Tod des Partners bleibt der Zurückgebliebene für den Rest des Lebens allein.

Gänse sind hoch soziale Tiere. Die wildlebenden Graugänse leben oft in Gänse-Clans zusammen, die von Weibchen dominiert sind. Dabei bilden sie sogenannte «Kindergärten», die bis zu 100 Küken (Gössel) umfassen. Dies hat vor allem für die Gössel im ersten Lebensjahr den Vorteil, dass sie vor Feinden wie Füchsen, Greifvögeln und Mardern besser geschützt sind. Gänse besitzen eine ausgeprägte soziale Intelligenz, vergleichbar mit derjenigen von Menschen. So kennen sie in einer Gruppe jede und jeden persönlich. Gänse merken sich zum Beispiel die Vorlieben ihrer Gefährten und sie wissen in der Gruppe ganz genau, wer wen mag oder eben auch nicht.

Der berühmte Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat sich zeitlebens mit Graugänsen beschäftigt und verschiedene interessante Verhaltensweisen entdeckt. Besonders intensiv erforschte er die Nachfolgeprägung der Gänse: Die Küken müssen nach dem Schlüpfen erst lernen, wer die Mutter ist. Sie verfügen also über kein angeborenes «Erscheinungsbild» der Mutter. Sie nähern sich in den ersten Stunden nach dem Schlüpfen allen Objekten in ihrer Umgebung, die sich bewegen und regelmässig Lautäusserungen von sich geben. Nach wenigen Minuten Aufenthalt in deren Nähe verfolgen die Küken es nahezu bedingungslos. In natürlicher Umgebung ist jenes Tier, das die Eier erbrütet hat und alle fremden Individuen vom Nest fernhält – normalerweise die Mutter. Die Prägung dient den Jungen zum Schutz und ermöglicht den Zusammenhalt, da sie nach dem Schlüpfen sofort weglaufen können (sogenannte Nestflüchter). Lorenz sorgte wiederholt dafür, dass nur er selbst sich nach dem Schlüpfen von Küken in deren unmittelbarer Nähe aufhielt. Dies hatte zur Folge, dass die Gössel auf Lorenz geprägt wurden und ihm nachfolgten, wohin auch immer er lief. Damit zeigte er, dass die Nachfolgeprägung auch auf Menschen und andere bewegliche Objekte Gültigkeit hat.

Lernen durch Prägung findet statt, ohne dass Belohnung oder Bestrafung eine Rolle spielen. Lernen durch Prägung unterscheidet sich daher fundamental von einer Lernform wie dem Lernen durch Erfahrung oder einer Problemlösung durch Versuch und Irrtum. Prägung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nur in einer bestimmten Zeitspanne stattfinden kann, die daher als «sensible Lebensphase» bezeichnet wird. Prägung ist also nicht nachholbar. In welchem Alter diese Phase ist und wie lange sie dauert, kann je nach Tierart sehr unterschiedlich sein. Prägung ist unwiderruflich. Das durch sie Gelernte wird besonders schnell und effektiv gelernt und «auf Lebenszeit» behalten. Zumindest werden die durch Prägung erworbenen Auslöser (Schlüsselreize) auf Dauer bevorzugt.


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